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15. April 2020

Neue Arbeit an historischem Material: Der Atlas des umstrittenen Dialektologen Eberhard Kranzmayer aus wissenschaftshistorischer Perspektive

Von März 2017 bis September 2019 arbeiteten wir, das sind Jan David Zimmermann und Klemens Wagner, gemeinsam beim Projekt „Österreichische Dialektkartographie 1924-1956. Digitalisierung, Kontextualisierung, Visualisierung“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien. Im Rahmen dieses Projektes wurde eine Fülle – insgesamt an die achthundert Karten und an die dreihundert Seiten zugehöriger Manuskripte – an (Karten-)material digitalisiert. Dieses wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts produziert und lange Zeit in der ehemaligen Wiener Wörterbuchkanzlei der ÖAW und ihren Nachfolgeorganisationen gelagert.

Die Wörterbuchkanzlei war im Jahr 1911 gegründet worden und beheimatete in erster Linie das Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ). An diesem im wahrsten Sinne des Wortes Jahrhundertwerk wird bis zum heutigen Tag gearbeitet. Als Ergänzung zum WBÖ begannen ab den 1920er Jahren Arbeiten im dialektgeographischen Bereich: Die Erstellung einer Mundartgeographie war eines der Ziele im Rahmen des Wörterbuch-Projekts. Maßgeblich verantwortlich für die Erstellung der Karten war der Klagenfurter Dialektologe Eberhard Kranzmayer (1897-1975). Er produzierte Karten, die v.a. Vokalismus und Konsonantismus, also die lautsprachliche Ebene, in der Verbreitung von bestimmten Mundartphänomenen visualisierten. Damit stand er in der Tradition seines ebenfalls aus Kärnten stammenden Lehrers Primus Lessiak (1878-1937). Darüber hinaus beschäftigte er sich auch mit der Verbreitung von mundartlichen Synonymen und brachte deren Vorkommen ebenfalls zu Papier. Im Zuge dieser Arbeit entstand bei Kranzmayer der (unvollendet gebliebene) Plan, einen eigenen Dialektatlas Österreichs herauszugeben.

Insgesamt entwarf Kranzmayer in diesem Kontext über 3000 Karten, von denen etwa 700 seiner Ansicht nach fertiggestellt wurden. Eine Auswahl dieser Karten – sowohl der Entwürfe als auch der fertigen Exemplaren – haben wir im Rahmen unseres Projekts digitalisiert, mit Informationen (Metadaten) versehen und in einer eigens entwickelten Datenbank langfristig gesichert und öffentlich zugänglich gemacht. 

Ausschlaggebend für das Projekt war Jan David Zimmermanns wissenschaftshistorische Dissertation zur Sprachkartographie. Er geht darin der Frage nach, wie sich das wissenschaftliche Wissen der Dialektologie des Deutschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konzeptuell zusammensetzte und wie sich dieses Wissen anschließend in der Praxis der Sprachkartographie niederschlug. Besonders relevant ist dabei der Bezug zum Politischen (im weitesten Sinne) sowie die Verbindung der Dialektologie zu anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen im Gefüge völkischer Wissenschaften. Er konzentriert sich dabei anhand von Karten, die im Rahmen des Projektes digitalisiert wurden, insbesondere auf die Wiener Wörterbuchkanzlei der ÖAW und ihre historischen Protagonistinnen und Protagonisten.

Im Zuge der Arbeit an der Datenbank entstand dann auch die Idee zur Masterarbeit von Klemens Wagner. Diese ist im Bereich der Soziolinguistik angesiedelt und beschäftigt sich mit den bisher unbekannten Teilen von Eberhard Kranzmayers Biographie, also seinen frühen Kindheits- und Jugendjahren sowie seiner Studienzeit. Die Grundlage für diese Arbeit bilden in erster Linie biographische Interviews mit den drei Töchtern Kranzmayers. Daneben kommen auch diverse Materialien aus unterschiedlichen Archiven zur Verwendung, wie etwa dem Kärntner Landesarchiv oder eben dem Archiv der ehemaligen Wörterbuchkanzlei. Ausgehend von diesen Ergebnissen wird dann versucht, das zuvor schon erwähnte, unveröffentlichte Lebenswerk Kranzmayers, den Dialektatlas Österreichs und seiner Nachbarländer (DAÖ) auf wissenschaftlicher, politischer und persönlicher Ebene in die Lebensgeschichte Kranzmayers einzuordnen und entsprechend aus diesen Ebenen heraus verstehen zu können.

Es liegt auf der Hand, dass es bei der Arbeit mit historischem Material einer besonderen Behutsamkeit bedarf - umso behutsamer muss man natürlich sein, wenn es sich dabei zusätzlich um Material handelt, das zur Zeit und im Kontext des Nationalsozialismus entstanden ist. Es war von Anfang an anzunehmen, dass man es auf die eine oder andere Art und Weise mit ideologisch belasteten Inhalten zu tun hat. In dieser Situation fanden wir uns sowohl beim Projekt als auch bei unseren jeweiligen Abschlussarbeiten wieder. Was gilt es also dabei zu beachten?

Dialektologie im Nationalsozialismus: eine Ausnahmestellung

Die Dialektologie und ihre Verbindung zum Nationalsozialismus wurde wissenschaftshistorisch lange unter dem Oberbegriff der Germanistik zusammengefasst und besprochen. Dadurch wurde zumindest klargestellt, dass durch den gemeinsamen Untersuchungsgegenstand der deutschen Sprache eine eindeutige ideologische Anschlussfähigkeit an den Nationalsozialismus vorhanden war. Davon abgesehen waren die meisten Germanistinnen und Germanisten ohnehin politisch im völkischen Bereich zu verorten und konnten sich somit ohne Probleme mit dem Nationalsozialismus arrangieren.

Die besondere Rolle der Dialektologie in dieser Konstellation ist dabei aber lange Zeit nicht im Detail besprochen worden: Hier besteht durch den Fokus der Mundartforschung auf die deutsche Sprache im Raum ein schon im Vorhinein potentiell wesentlich stärkerer Bezug zur nationalsozialistischen Raum- und somit Expansionspolitik, als dies in anderen Bereichen der germanistischen Sprachwissenschaft der Fall war, oder anders gesagt: Es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen der realpolitischen Tragweite eines ideologischen Aufsätzchens über die große Bedeutung des Nibelungenliedes und dialektologischer Forschung, aus der die Legitimation aggressiver Umsiedlungs- und Bevölkerungspolitik abgeleitet wird.

Realpolitische Auswirkungen der Ausnahmestellung

Gerade letzteren Aspekt hat Eberhard Kranzmayer ab 1942 massiv in dem von ihm geleiteten Institut für Kärntner Landesforschung betrieben. Dabei hat er mit anderen Protagonisten völkischer Wissenschaft, wie etwa dem Historiker und Geographen Martin Wutte (1876-1948), eng zusammengearbeitet. Dieses Institut für Kärntner Landesforschung in Klagenfurt war multidisziplinär zusammensetzt und ist im Kontext der Annexion Jugoslawiens (1941) installiert worden. Es unterstand dem SS-Ahnenerbe, einer kulturpolitisch-wissenschaftlichen NS-Institution, der in letzter Instanz Heinrich Himmler selbst vorstand und in die er auch tatsächlich persönlich stark involviert war. Das Institut in Kärnten arbeitete der Wehrmacht zu und war in Bücherraub und Arisierungs-Vorgänge in den annektierten Gebieten verwickelt. Ein Fokus der Tätigkeit lag auf der Legitimation der Umsiedlung und Deportation von Slowenen aus gemischtsprachigen Gebieten, um im Sinne der Germanisierung und Heim-Ins-Reich-Doktrin für „Deutsche“ Platz zu machen, die dorthin übersiedelt werden sollten.

Die Rolle der interdisziplinären Kartographie(n)

Zeugnis solcher Kontexte bildet Kartenmaterial, das Kranzmayer nach dem Krieg in der Wiener Wörterbuchkanzlei aufgehoben hat. Entscheidend ist dabei Folgendes: Der Zusammenhang von Sprachkartographie und NS-Raumpolitik ist differenziert zu betrachten, da sich viele Verbindungen nur aus einer umfangreichen Kontextualisierung verstehen lassen. Besser ist es auch, solche Karten unter dem Aspekt der völkischen Wissenschaft zu betrachten, da „völkisch“ ein breiteres (und längerfristiges) Spektrum erfasst als „nationalsozialistisch“. Dies bedeutet, dass man Kartenbilder nicht einfach isoliert interpretieren kann und dass Karten auf den ersten Blick unpolitisch und „rein linguistisch“ erscheinen können. Man muss jedoch die politischen, institutionellen, grob gesprochen: gesellschaftlichen Umstände berücksichtigen, unter denen sie entstanden sind. Des Weiteren muss man die wissenschaftlichen Netzwerke kennen, die sie begünstigten bzw. begleiteten. Und man muss schließlich um die konzeptuellen Verbindungen zwischen „verschiedenen Disziplinen Bescheid wissen.

Hier ist besonders eine Verbindung relevant: Diejenige zwischen Dialektforschung und Kulturgeographie. Zweitere hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Raum nicht nur physiogeographisch, sondern im Hinblick auf die darin vorkommenden Menschen und ihre Kultur bzw. ihr „Volkstum“ hin zu interpretieren. Eine kulturgeographische Ausrichtung war dabei besonders relevant: Die deutsche Volks- und Kulturbodenforschung. Diese Forschungsrichtung bezeichnete, knapp formuliert, als „deutschen Volksboden“ all jenen geographischen Raum, wo überall „Deutsche“  siedelten und interpretierte als deutschen Kulturboden all jene Regionen, wo einst „Deutsche“ gesiedelt hatten. Dies konnte etwa auch Osteuropa sein, als „Deutsche“ galten dabei auch die Germanen.

Diese grundsätzlich auf Expansion ausgelegten Vorstellungen kulminierten in der regelmäßigen Zusammenarbeit des Kulturgeographen Albrecht Penck (1858-1945) mit dem Kartographen Arnold Hillen Ziegfeld. Letzterer entwickelte die sogenannte „suggestive Kartographik“ als eine politisierte Form der kartographischen Darstellung. Auch Kranzmayer benützt in unterschiedlichen Texten immer wieder die Begriffe Volks- und Kulturboden; das kulturgeographische Paradigma war in den Geisteswissenschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit verbreitet.

Die Karten – einige Beispiele

Im Laufe unserer Forschung haben wir eine interessante Verbindung ausmachen können, nämlich die Kooperation des bereits mehrfach erwähnten Kärntner Landeshistorikers Martin Wutte – dieser war auch gut bekannt mit Kranzmayer und dessen Lehrer Primus Lessiak – mit Arnold Hillen Ziegfeld.

In der „Sprachenkarte von Kärnten“ sind die für Ziegfeld typischen starken schwarz-weiß-Kontraste sichtbar, wobei „Südslavien“ bedrohlich in schwarz eingefärbt wurde. Ziegfeld und Wutte visualisieren in ihrer Karte die Sprachzustände des Grenzraumes Kärnten, Italien, Slowenien und stellen auch das sogenannte „reindeutsche Sprachgebiet“ dar. Eben dieser Raum wurde vom oben bereits genannten SS-Institut untersucht und stellte bereits früh für Eberhard Kranzmayer einen Untersuchungsgegenstand seiner sogenannten Grenzlandsprachenforschung dar, die er seit den frühen 1930er Jahren intensiv und auch durch die Finanzierung von Stipendien, betrieb.  

Interessant ist an der obigen Karte von Wutte und Ziegfeld, deren genaues Datum uns nicht bekannt ist, dass diese Karte stark einer Karte mit demselben Titel und demselben Kartenausschnitt ähnelt, die Martin Wutte in der Zeitschrift Carinthia veröffentlicht hat (Carinthia I, 1924, S. 87/1).  

In einer kleinformatigen Karte, in welcher Kranzmayer Karten Wuttes verarbeitet hat, skizziert er sowohl die Sprachgrenze zwischen dem Deutschen und dem Slowenischen als auch die politische Grenze, wobei er in Kreuzform grob Längen-und Breitengrade (ohne Dezimalstellen) eingezeichnet hat. Es handelt sich dabei um die Grenze von Slowenien zu Kärnten, welches Gebiet genau wird aber, da keine Ortsnamen eingezeichnet sind, nicht ersichtlich.  Er bezieht sich damit thematisch direkt auf die Frage von „reindeutschem“ und gemischtsprachigem Gebiet und übernimmt dabei die Terminologie aus Wuttes Kartenmaterial.  

Entscheidend ist, dass es bzgl. Sprachkarten, wie man unschwer erkennen kann, viele unterschiedliche Varianten gibt.

Eine weitere schillernde Kategorie von Karten ist die der sogenannten Grundkarte. Auch dieser Begriff ist bei genauerem Hinsehen mehrdeutig. Auf den Punkt gebracht kann man jedoch sagen, dass eine Grundkarte zumeist eine topographische Karte mit kartographischen Standards darstellt, d.h. die Karte besitzt meist einen Maßstab, eine Legende, einen Kilometerstrahl und ein Gradnetz, auf die auf einer darüberliegenden Ebene sprachliche Phänomene eingezeichnet werden können. So kann also bei einem Druckwerk immer dasselbe topographische Kartenbild verwendet werden wobei sich die dargestellten linguistischen Phänomene abwechseln. Was nun an der untenstehenden Grundkarte interessant ist, sind die Raumbezeichnungen, die in der Legende aufgeschlüsselt werden: Denn in dieser Karte aus den 1940er Jahren werden die NS-Gaueinteilungen sowie die Protektoratsgrenze gezeigt. Niederösterreich heißt nun Niederdonau, Oberösterreich Oberdonau etc. Hier mag man vielleicht sagen, dass dies eben eine äußere politische Veränderung der Zeit darstellte, auf die reagiert wurde. Im Falle dieser Probedrucke aus den 1940er Jahren ist jedoch zu betonen, dass Korrespondenzen aus der Wörterbuchkanzlei vorliegen, die zeigen, dass sich Kranzmayer und seine Kollegen und Mitarbeiter mit Gauleitern bzgl. der angegebenen Kartenausschnitte beraten und deren Zustimmung eingeholt hatten.  

Man sieht also, dass die Art und Weise, wie die Verbindung von Sprachkarten und Politik sich darstellt, immer unterschiedlich ausfällt.

Es zeigt sich, wie schon einmal betont, dass die Karten alleine und für sich genommen nur bedingt erhellend sind, dass man sie daher erst bei einer umfassenden Kontextualisierung entsprechend einschätzen und beurteilen kann.

Vom Allgemeinen zum Speziellen: Primus Lessiak, Eberhard Kranzmayer und der DAÖ

Das ist also der größere Kontext, in dem man sich Kranzmayers Arbeit am DAÖ vorstellen muss. Ein Großteil der Karten wurde bereits vor 1942, also auch vor der Gründung des Instituts für Kärntner Landesforschung, gezeichnet. Wie gesagt waren aber die deutsche Mundartforschung im Allgemeinen und somit auch Kranzmayer im Besonderen schon lange vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten politisch entsprechend ausgerichtet. Im Falle Kranzmayers lässt sich das auch sehr gut auf den Einfluss seines Lehrers Primus Lessiak (1878-1937) zurückverfolgen.

Zur Bedeutung Lessiaks

Lessiak war einer der wichtigsten und einflussreichsten Dialektologen seiner Zeit, befreundet mit Martin Wutte, und gewissermaßen der Vater der Dialektgeographie in Österreich. Er war an der Schaffung der Wiener Wörterbuchkanzlei und der Sammlung der Daten für das WBÖ beteiligt und auf ihn geht der Plan, einen österreichischen Dialektatlas zu schaffen, zurück. Wann genau diese Idee entstand, ist nicht ganz klar.   Es ist aber belegt, dass Lessiak spätestens im Sommer 1905 eine erste dialektologische Kundfahrt in Kärnten unternahm und dabei explizit dialektgeographische Fragestellungen untersuchte. Sein im Jahr 1906 diesbezüglich veröffentlichter Text „Beiträge zur österreichischen Dialektgeographie der österreichischen Alpenländer“ wurde gleichzeitig auch seine Habilitationsschrift, was die Bedeutung des Themas zusätzlich unterstreicht. Hier ist, am Rande gesagt, der nach heutigen Maßstäben sehr geringe der Umfang dieser Arbeit bemerkenswert: Sie hat gerade einmal acht Seiten. Wenngleich explizite politische Aussagen in diesem Werk nicht zu finden sind, mangelt es in vielen anderen Arbeiten Lessiaks keinesfalls an eindeutigen Positionierungen: Er ist zweifellos als durch und durch deutsch-nationalistisch einzustufen. Irgendwann ab Mitte der 1910er Jahre lernte er in Klagenfurt Eberhard Kranzmayer kennen und nahm den damals noch nicht 18-Jährigen mit auf seine dialektologischen Kundfahrten. Von ihm übernahm Kranzmayer dann nicht nur die entsprechende ideologische Ausrichtung, sondern auch die wissenschaftliche Methode der Kundfahrten und Dialektgeographie sowie später das Lebensprojekt des Dialektatlasses. Dieses führte Kranzmayer Zeit seines Lebens beinahe vollständig in eigener Arbeit durch.

Kranzmayers Lebenswerk

Dabei war nicht nur die Beschaffung der Daten ein Problem für das Atlasprojekt, das je nach politischer Gegebenheit unter einem anderen Namen auftrat: Der gewaltige Umfang, der aus dem Anspruch entstand, das gesamte österreichische Gebiet (mit Ausnahme Vorarlbergs) abzudecken, ließ das Zeichnen der riesigen Menge an Karten kaum bewältigbar erscheinen. Anders als beim WBÖ war der DAÖ nämlich nie als offizielles Forschungsprojekt genehmigt und mit entsprechendem Personal und Geld versorgt und blieb tatsächlich stets gewissermaßen Kranzmayers privates Steckenpferd.

 Die hauptsächliche Arbeit an den Karten fand zumindest nach Aussage Kranzmayers in den Jahren vor 1941 statt. Kranzmayer war zunächst in Wien an der Wörterbuchkanzlei der ÖAW tätig und übersiedelte dann 1938 nach München, wo er seine Arbeit an der dortigen Wörterbuchkanzlei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Schwesterninstitution der Wiener Kanzlei, fortsetzte. Neue Karten für den Atlas kamen nach diesem Aufenthalt in München kaum noch hinzu, die Arbeit ging aber sehr wohl weiter und konzeptuell ähnliche Karten, die für andere Projekte gedacht waren, zeichnete Kranzmayer ohnehin sein ganzes Leben immer wieder. Als Direktor des Instituts für Kärntner Landesforschung war er ab 1942 in Klagenfurt, überarbeitete Karten und fertigte insbesondere die ersten Manuskripte, die die beiden Beilagen zum DAÖ bilden sollten, an. An dieser Stelle muss man sich unbedingt vor Augen führen, dass Kranzmayer zu diesem Zeitpunkt bereits jahrelang an den Atlaskarten gearbeitet hatte und nach wie vor weiter arbeitete. Wirft man nun einen Blick auf die zuvor erwähnten Aufgaben des Instituts für Kärntner Landesforschung, die sozusagen vorauseilend gehorsame ideologische Ausrichtung der Dialektologie und Kranzmayers dem Nationalsozialismus gegenüber sowie die strategisch für die Bevölkerungspolitik günstige Methode der Dialektgeographie, wird schnell klar: Hier hat man es mit einer spätestens jetzt auch realpolitisch hochexplosiven Verbindung zu tun. Wenngleich die einzelnen Karten für sich genommen politisch unverfänglich und sogar (den damaligen Standards gemäß) wissenschaftlich akzeptabel erscheinen, so ist deren tatsächliche Bedeutung im historischen Kontext augenscheinlich alles andere als unverfänglich.

Die weitere Geschichte

 Die weitere Geschichte Kranzmayers ist in trauriger Weise exemplarisch für viele Versäumnisse der Entnazifizierung in Deutschland bzw. insbesondere in Österreich. Er wurde nach dem Krieg in München aufgrund seiner politischen Verstrickungen nach 1945 mit einem Berufsverbot belegt, in Wien allerdings rehabilitiert. Ab 1949 konnte er wieder an der ÖAW Fuß fassen und wurde später zum ordentlichen Professor für Ältere Deutsche Literatur und Sprache an die Universität Wien berufen. Die Arbeit am DAÖ ruhte jahrzehntelang, bis Kranzmayer gegen Ende der 1960er die Drucklegung seines Lebenswerkes erneut in Angriff nahm. Zu einigen Probedrucken von Karten und einer fertiggestellten Einführung kam es dann im Jahr 1974, zur Publikation brachte es das Werk aber nie. Gute vier Jahrzehnte nach dem Tod des Autors wurde nun ein beträchtlicher Teil der Sammlung erstmals digitalisiert und in dieser digitalisierten Form öffentlich zugänglich gemacht.


Zitation
Wagner, Klemens; Zimmermann, Jan David (2021): Neue Arbeit an historischem Material: Der Atlas des umstrittenen Dialektologen Eberhard Kranzmayer aus wissenschaftshistorischer Perspektive.
In: DiÖ-Online.
URL: https://www.dioe.at/artikel/2379
[Zugriff: 18.09.2024]