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15. März 2021

Das „Meidlinger L“ – Einem Sprachmythos auf der Spur. Teil 2: Kontaktlinguistische Perspektiven

Dieser zweite von zwei Beiträgen zum „Meidlinger L“ (zum ersten geht es hier) beschäftigt sich aus kontaktlinguistischer und slawistischer Perspektive mit der Frage der Herkunft dieses Lautes: Ist es möglich, dass er aus dem Tschechischen kommt?

Rekapitulation: Was bisher geschah…

 Bereits in der Februarausgabe dieses Blogs haben wir uns mit dem „Meidlinger L“ beschäftigt und festgehalten, was wir über die Aussprache und akustischen Merkmale sowie über das Vorkommen dieses (stereo-)typisch wienerischen Lauts bisher gesichert wissen. Wir haben festgestellt, dass das „Meidlinger L“ ein sogenannter velarisierter Lateral ist. Es erhält seinen „dunklen“ Klang also dadurch, dass im Vergleich zum normalen „hellen (= alveolaren) L“ der Zungenrücken in Richtung des weichen Gaumens (= Velum) bzw. Gaumenzäpfchens (= Uvula) angehoben wird, wie es die in der Abbildung zu sehen ist. Gleichzeitig wird er weiter vorne nach unten gedrückt. Wir haben im letzten Beitrag auch die phonetischen Umschriften [l] für das normale, alveolare bzw. [ɫ] für das velarisierte und auch das „Meidlinger L“ eingeführt. Wir werden sie auch in der Folge verwenden.

Als Besonderheit des „Meidlinger L“ wird immer beschrieben, dass es nicht nur am Ende von Silben oder Wörtern (insbesondere bei Verkleinerungsformen wie „Asterl“ oder „Apferl“) sondern auch am Wortanfang (z. B. in „leiwand“) vorkommt. Allerdings haben wir festgestellt, dass ein velarisiertes [ɫ] auch in ländlichen ostmittelbairischen Dialekten, z. B. in Kirchberg am Wechsel am Wortanfang vorkommt. Insbesondere Männer verwenden es. Das ist eine Übereinstimmung zu Daten aus Wien, die ebenfalls zeigen, dass Männer das „Meidlinger L“ sprechen, während Frauen es zu vermeiden scheinen.

Zusammenfassend konnten wir also zeigen, dass das „Meidlinger L“ kein ausschließliches Phänomen des Wienerischen – geschweige denn eines „Meidlinger Dialekts“ – ist. Seit wann es jedoch außerhalb Wiens verwendet wird, wissen wir noch nicht. Ebenso wenig wissen wir, ob es sich von Wien ausgehend verbreitet hat oder ob es in den Dialekten selbst entstanden ist. Beide Aspekte sind jedoch Gegenstände unserer aktuellen Forschung – insbesondere im Teilprojekt PP02 des SFB „Deutsch in Österreich“.

Sprachgeschichte – Geschichten über Sprache

Mit der Frage nach dem Entstehen des [ɫ] sind wir an einem entscheidenden Punkt für diesen Beitrag angekommen: Genauso wenig, wie wir wissen, seit wann es in Kirchberg am Wechsel verwendet wird, wissen wir, wann und wie es im Wiener Dialekt entstanden ist. Zwar gibt es Hypothesen – manche mehr, andere weniger wahrscheinlich, manche auf der Hand liegend, andere komplexer –, doch solange es keine verlässlichen sprachgeschichtlichen Studien gibt, bleiben sie mögliche Geschichten über Sprache bzw. über einen Laut.

Solche Geschichten über Sprache können ein Eigenleben entwickeln und so ist dies auch beim „Meidlinger L“ der Fall, das sich auf Grund dieser Geschichten und Mythen so gut als Identifikations- und Projektionsfläche eignet. Auf die Initiative der Jungen Generation in der SPÖ Meidling aus dem Jahr 2015, das „Meidlinger L“ als immaterielles Kulturerbe registrieren zu lassen, haben wir in diesem Kontext schon verwiesen. Ihre Homepage enthält auch ein gutes Beispiel dafür, wie solche Geschichten über Sprachen, solche Sprachmythen ausformuliert werden und zwar anhand des „Meidlinger L“: Für sie ist es nämlich „vor 150 Jahren nach Wien gereist. Die zugezogenen EinwanderInnen aus Böhmen und Mähren gaben dem ‚L‘ seine heute typische Klangfarbe durch ihren Akzent,“ weshalb es bis heute zum Symbol für gesellschaftliche Vielfalt taugt (vgl. hier).

Die gesellschaftspolitische Umdeutung und ihre Relevanz sollen hier nicht näher behandelt werden. Stattdessen möchten wir in unserem Metier bleiben und fragen, ob es denn plausibel ist, dass das „Meidlinger L“ aus dem Tschechischen kommt, so wie es der Mythos sagt. Dazu blicken wir zunächst in die wissenschaftliche Literatur, die bisher zu diesem Thema publiziert wurde:

Eine kurze wissenschaftliche Literaturgeschichte des „Meidlinger L“

Beginnen wir mit der ersten Erwähnung einer angeblich durch das Tschechische beeinflussten „L“-Variante, die in Karl Luicks erstmals 1904 veröffentlichter „Deutschen Lautlehre mit besonderer Berücksichtigung der Sprechweise Wiens und der österreichischen Alpenländer“ zu finden ist. Darin beschreibt er zwei Varianten des „L“-Lautes in Österreich, nämlich ein „helles“, alveolares [l] und ein „dunkles“. Dieses dunkle „L“ wird ihm zufolge jedoch retroflex, also mit nach oben zurückgebogener Zungenspitze gesprochen (wir haben es als [ɭ] auch in unserem ersten Beitrag besprochen). Auch Karl Luick beschreibt, dass das „L“ abhängig von der Position im Wort entweder hell oder dunkel artikuliert wird und zwar in der Standardsprache und in den (ostösterreichischen) Dialekten nach unterschiedlichen Regeln:

  • Das „helle L“ wurde in der Standardsprache am Wort- oder Silbenanfang immer und am Wort- oder Silbenende nach „I“, „Ü“, „E“, „Ö“, und dentalen Konsonanten („D“, „T“) ausgesprochen, in den ostösterreichischen Dialekten hingegen ausschließlich am Wort- oder Silbenanfang.

  • Das „dunkle L“ beschreibt Luick als die Variante, die in der Standardsprache am Wort- oder Silbenende nur nach „A“, „O“, „U“ und labialen Konsonanten („B“, „P“) auftritt, in den ostösterreichischen Dialekten hingegen immer am Wort- oder Silbenende. In diesen verursacht es ihm zufolge auch Lippenrundung beim vorhergehenden Vokal.

Außerdem beobachtet er, dass dieses „dunkle L“ „von Nichtdeutschen“ – darunter auch Tschechischsprachige – „im Anlaut […] nur irrtümlicherweise artikuliert“ würde. Ob dieses „dunkle L“ im Anlaut von den Tschechischsprachigen nun retroflex oder velarisiert gebildet wird, führt er nicht weiter aus (allerdings wurde ein retroflexes L für die Tschechische Sprache nie beschrieben). Jedenfalls bedeutet dies, dass ihm zufolge nicht der Laut als solcher aus dem Tschechischen entlehnt wurde, sondern bloß die Generalisierung des „dunklen“ Klangs auf alle Positionen durch den Sprachkontakt befördert wurde. Eine Beschränkung dieses Phänomens auf Wien – geschweige denn ausschließlich auf Meidling – gab es laut Luick auch nicht.

Dann wird es – zumindest in der publizierten Literatur – lange still um dieses „L“. Eberhard Kranzmayer (vgl. auch diesen Blogbeitrag) hebt in seiner „Historischen Lautgeographie“ aus dem Jahr 1956 bloß hervor, dass „in Wien und seiner Umgebung […] in bestimmten Gesellschaftsschichten postdentales l üblich“ sei, ein erster Hinweis auf eine velarisierte [ɫ]-Aussprache. Wie die Abbildung oben zeigt, ist es für das [ɫ] nämlich durchaus üblich, dass die Zungenspitze im Vergleich zum alveolaren [l] ein bisschen nach vorne rutscht und dann direkt hinter den Zähnen, also postdental zu liegen kommt. Auch hier wird das Phänomen nicht als ausschließlich wienerisch bezeichnet, von Sprachkontakt mit dem Tschechischen ist im Zusammenhang mit der Aussprache des „L“ ebenfalls keine Rede.

Erst Ende des 20. bzw. Anfang des 21. Jahrhunderts wird das „Meidlinger L“ auch explizit als velarisiert beschrieben und mit [ɫ] notiert. Bezüglich der Frage der Entstehung zeichnen sich zu diesem Zeitpunkt zwei Erklärungsansätze ab:

A) Die eine verweist auf den Sprachkontakt mit dem Tschechischen. Peter Wiesinger (2003: 2372) z. B. nennt „die breite velarisierte Artikulation des anlautenden und postdentalen l (sog. ‚Meidlinger l‘)“ unter den auffälligsten sprachlichen Merkmalen, die das „Infiltrat“ des Tschechischen ab 1890 bewirkte. Diese Position bereitet den Weg für die populäre Interpretation, die das „Meidlinger L“ als Mitbringsel der tschechischsprachigen Migrantinnen und Migranten sieht.

B) Die andere Position – vertreten etwa von Heinz-Dieter Pohl (1997) – spricht sich gegen die Kontakterklärung aus und führt dazu ins Treffen, dass es in der Standardsprache und in den meisten Dialekten des Tschechischen seit Jahrhunderten ebenso wie im Standarddeutschen nur einen „L“-Laut gibt. Dieser wird primär alveolar gebildet und in der Slawistik als „mittleres L“ bezeichnet. Die Tschechischsprachigen konnten das „Meidlinger L“ also nicht mitgebracht haben.

Um ein besseres Verständnis für diese Argumentation zu gewährleisten, müssen drei Aspekte näher beleuchtet werden: Zuerst machen wir einen kleinen Ausflug zu den slawischen Sprachen und ihren „L“-Lauten. Dann erklären wir, warum die Sprachwissenschaft Aussprache auf zwei Ebenen, nämlich der des Sprachsystems und der der tatsächlichen Realisierung betrachtet. Schließlich müssen wir uns noch mit der Kontaktlinguistik beschäftigen.

Ein kleiner Ausflug zu den slawischen Sprachen

Die Position, die argumentiert, das „Meidlinger L“ könnte nicht aus dem Tschechischen stammen, beruft sich hauptsächlich auf die Tatsache, dass das Standardtschechische nur einen „L“-Laut kennt. Das stellt innerhalb der heutigen slawischen Sprachen eine Besonderheit dar. Noch in urslawischer Zeit haben sich nämlich zwei verschiedene „L“-Laute entwickelt: Zum „mittleren“ alveolaren /l/ trat ein am harten Gaumen gebildetes, palatales („weiches“) – wir haben es im ersten Teil des Blogs vorgestellt und bezeichnen es als /ʎ/.

Die slawischen Sprachen haben diese Opposition nun verschieden weiterentwickelt. Im Standardslowakischen gibt es die beiden Laute bis heute. Das Russische bildet das „weiche L“ alveolar, wobei die Zunge aber ähnlich wie bei der Aussprache eines „J“ im Mund liegt (im IPA schreibt man dann /lj/). Das „harte L“ hingegen wird velarisiert /ɫ/, wobei die Zungenspitze die Zähne berührt. Im Polnischen sind beide Laute im Mund nach vorne gerückt – was früher das palatale /ʎ/ war, wird heute wie im Standarddeutschen alveolar als /l/ ausgesprochen, während das ursprünglich alveolare /l/ erst velarisiert, also zu /ɫ/, und schließlich sogar in den Dialekten, auf denen das Standardpolnische basiert, zu einem unbetonten „U“ vokalisiert wurde (man schreibt /u̯/).

  Im Tschechischen haben sie sich eben zu einem Laut vereinigt. Eine Ausnahme bilden dabei die Dialekte in Schlesien und in Ostmähren. Auf der folgenden Karte sind die Gebiete, in denen es in den tschechischen Dialekten nur ein /l/ gibt, von denen, in denen sich /l/ und /ɫ/ oder dessen Weiterentwicklung zum /u̯/ gegenüberstehen, durch Strich-Punkt-Linien (Isoglossen) abgetrennt. Außerdem sind auf der Karte mit schwarzen Wellenlinien diejenigen Gebiete markiert, in denen bei der Volkszählung 1880 eine einfache Mehrheit der Bevölkerung Deutsch als Umgangssprache angegeben hatte. Die Orangetöne zeigen an, wie viele Menschen, die in dem jeweiligen Bezirk (deren Grenzen nicht eingezeichnet sind) geboren worden waren, bei der Volkszählung 1910 in Wien lebten. Je dunkler das Orange, desto höher war ihr Prozentanteil – die dunkelorangen, nicht schwarz gewellten Gebiete waren also die primären Herkunftsgebiete der Wiener Tschechinnen und Tschechen. Wir können sehen, dass die meisten von ihnen nicht im Gebiet von Dialekten, die /l/ und /ɫ/ unterscheiden, liegen. Deshalb kann man davon ausgehen, dass die Migrantinnen und Migranten nur einen „L“-Laut, eben das „mittlere L“ kannten.

Und wenn wir schon bei der Migration von Tschechischsprachigen nach Wien sind: Die zweite Karte zeigt zusätzlich, dass im 12. Wiener Gemeindebezirk, also in Meidling, um 1900 vergleichsweise wenige tschechischsprachige Personen lebten. Das „Meidlinger L“ – das haben wir ja schon gezeigt – und schon gar nicht die Migration von Tschechinnen und Tschechen sind demnach für Meidling spezifisch. Wahrscheinlich wurde dieser spezifische „L“-Laut nach Meidling benannt, da er in diesem Wort gut artikuliert werden kann.

 

Sprachwissenschaftliche Differenzierungen

Nun wird die aufmerksame Leserin/der aufmerksame Leser unserer Blogbeiträge einwerfen: Halt, wir haben doch auch im ersten Teil verschiedene „L“-Varianten beschrieben, die in den Dialekten Österreichs vorkommen! Darunter waren z. B. die „hinteren“ „L“-Laute und das „L“ im Kürbiskernöl, aber auch die velarisierten [ɫ]-Varianten am Ende von Verkleinerungsformen („Astel“, „Hendl“ etc.). Wo liegt denn da jetzt der Unterschied zu den slawischen Sprachen? Um diesen zu verstehen, müssen wir mit sprachwissenschaftlicher Genauigkeit vorgehen und die Unterscheidung zwischen dem Lautsystem einer Sprache, der Phonologie, und der tatsächlichen Aussprache, auch Phonetik genannt, einführen.

In den slawischen Sprachen mit zwei „L“-Lauten liegt der Unterschied im Lautsystem. Ob der eine oder der andere „L“-Laut (oder seine Weiterentwicklung) verwendet wird, verändert die Bedeutung des Wortes. Auf Polnisch würde der Satz Jest miła etwa bedeuten, dass sie (etwa eine Frau) lieb ist. Der Satz Co to jest mila? hingegen heißt: „Was ist eine Meile?“ Ob man ein /l/ oder ein /ɫ/ spricht, macht also einen Bedeutungsunterschied. Wie man sieht, setzen wir die IPA-Buchstaben in schräge Klammern (also z. B. /l/), wenn wir diese kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten einer Sprache, die sogenannten Phoneme, meinen.

Hingegen ist das, was wir im ersten Teil des Blogbeitrags angesprochen haben, auf der Ebene der tatsächlichen Aussprache angesiedelt: Ein und dasselbe Phonem (etwa /l/) kann z. B. im Deutschen sehr unterschiedlich realisiert werden (einmal als [l], in einem anderen Fall als [ɭ] oder [ɫ]). Die Bedeutung des Wortes ändert sich durch diese Unterschiede allerdings nicht, wenn man für „Öl“ nicht [øl] sondern wie in der Steiermark [øɭ] sagt. Die konkreten Realisierungen werden, wie Sie sehen können, in eckigen Klammern notiert.

1.     Ist diese Variation auf den Einfluss benachbarter Laute zurückzuführen, spricht man von Koartikulation. Wenn wir das /l/ als Beispiel nehmen, haben wir diesen Fall im Standarddeutschen in Deutschland: Hier liegt in aller Regel ein alveolares [l] vor, doch unterscheidet sich die exakte Artikulation und damit die akustischen Eigenschaften je nachdem, ob es neben einem /i/ oder einem /a/ gesprochen wird. Diese Unterschiede können wir im Alltag kaum wahrnehmen.

2.      Werden diese Unterschiede jedoch so groß, dass sie nicht nur durch die lautliche Umgebung erklärt werden können, und folgen sie nachvollziehbaren Regeln (wie sie etwa Luick beschreibt), dann spricht man von Allophonie. Das ist in Bezug auf die „L“-Laute etwa im britischen Englisch der Fall: Am Wortanfang werden sie „hell“, als [l] gesprochen (z. B. im Wort „love“ ♥), am Wortende hingegen „dunkel“ als [ɫ] (z. B. im Wort „all“). Diese beiden Varianten unterscheiden sich deutlich, wie Sie im Refrain dieses Beatles-Songs (bei 1:00 Min.) selbst hören können. Auch für das aktuelle Standardtschechisch, wie es von männlichen Sprechern in Prag gesprochen wird, deuten aktuelle akustische Untersuchungen auf dieses Muster hin.

Die vielen Seiten des Sprachkontakts

Was bedeuten diese Informationen nun im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte für das „Meidlinger L“, das wir ja eben nicht nur am Ende von Wörtern und Silben, sondern eben auch an deren Beginn finden?

Nun, zunächst kann eine einfache, direkte Entlehnung des Lautes im Sinne der vereinfachten Erzählung zurückgewiesen werden: Das „Meidlinger L“ kann nicht mit den Tschechischsprachigen nach Wien gereist und von ihnen ins Wienerische ganz genau so, wie sie es im Tschechischen verwendeten, importiert worden sein. Sie hatten in ihren tschechischen Dialekten, wie die obige Karte zeigt, in der überwiegenden Mehrzahl auf der Systemebene der Sprache kein velarisiertes /ɫ/. Das velarisierte [ɫ], das im heutigen Tschechisch aus Prag auf der Ausspracheebene auftritt, wurde nicht in allen Positionen im Wort gesprochen (sofern die heutigen Daten die damalige Situation widerspiegeln). Das „Meidlinger L“ ist aber gerade durch sein Auftreten am Wortanfang so auffällig, also an einer Position, in der es auch das heutige (böhmische) Standardtschechisch nicht kennt.

Der Kontakt zwischen zwei Sprachen führt jedoch nicht nur zur direkten Entlehnung von Wörtern, Lauten oder anderen sprachlichen Einheiten. Er kann auch weniger offensichtliche Auswirkungen haben, als es Fremdwörter oder (in ihnen vorkommende) fremde Laute sind. Jede und jeder von uns kennt es wohl: Wenn man eine fremde Sprache lernt, spricht man die Laute der Fremdsprache oft nach den Gewohnheiten aus der eigenenErstsprache aus. Das passiert oft unbewusst, obwohl man von sich selbst glaubt, dass man die Laute „korrekt“ ausspricht, oder wenn man selbst gar keinen Unterschied zwischen einem Laut in der Erstsprache und dem entsprechenden ähnlichen Laut in der Fremdsprache hört. So etwas ist dann ein fremdsprachiger Akzent. Ist er nicht nur für Individuen, sondern auch für ganze Gruppen typisch, so nennt man ihn Ethno- oder Soziolekt – je nachdem ob die Gruppe eher über die „ethnische“ oder soziale Herkunft definiert wird.

Allerdings ist es selten, dass sich solche Veränderungen stabilisieren und dann tatsächlich von allen, auch den nicht-mehrsprachigen Sprecherinnen und Sprechern gebraucht werden. Dafür müssten die nicht-mehrsprachigen Sprecherinnen und Sprecher (hier: einsprachig deutschsprachig) diese „veränderte“ Sprache sehr häufig im Alltag hören und diese müsste außerdem ein gewisses Prestige besitzen.

Zurück nach Wien und zum „Meidlinger L“

Beim „Meidlinger L“ ist aber zusätzlich zu berücksichtigen, dass der Wiener Dialekt, für den es als (stereo-)typisch gilt, nicht ausschließlich über die räumliche Verbreitung in Wien charakterisiert ist. Vielmehr wird er bestimmten sozialen Gruppe zugeschrieben bzw. wurde aus einem Soziolekt weiterentwickelt, nämlich aus der Sprache der Wiener Arbeiterinnen und Arbeiter (zum damaligen Zeitpunkt aus den industriell geprägten Randbezirken). Diese kamen im 19. Jahrhundert aus den tschechischsprachigen Gebieten, aber auch aus dem gesamten Rest der Monarchie. Es muss also von einer Situation ausgegangen werden, in der Dialekte verschiedenster Sprachen (auch des Deutschen) aufeinandertrafen und in der ein sehr großer Teil der Sprecherinnen und Sprecher mehrsprachig war, deren „kleinster gemeinsamer Nenner“ irgendeine Form des Deutschen gewesen sein dürfte.

In einer solchen Situation des „multiplen“ Sprachkontakts kommt es manchmal dazu, dass eine bereits begonnene Entwicklung in einer Sprache oder einem Dialekt (in unserem Fall des Wienerischen) beschleunigt, unterstützt oder auch gehemmt wird. Es gibt zumindest Hinweise darauf, dass in einigen mittelbairischen Dialekten das „L“ am Ende von Wörtern nach /d/ oder /s/ schon früher velarisiert realisiert wurde (etwa in „Stadel“, „Nadel“ oder „Schlüssel“), während an anderen Positionen die anderen „L“-Varianten vorkamen. Erinnern wir uns nun, was wir oben über die Entwicklung eines fremdsprachigen Akzents gesagt haben: Wenn sich ein „L“-Laut in der Fremdsprache „dunkel“ anhört, kann also eine Lernerin oder ein Lerner diesen Laut mit einem „ähnlich dunklen“ „L“-Laut aus der Erstsprache ersetzen. So könnte es also theoretisch zu Verwechslungen zwischen dem retroflexen und dem velarisierten „L“ und damit zu einer Ausdehnung des [ɫ] auf andere Positionen, also zu einer Generalisierung dieser Variante gekommen sein.

Vom relativen Wissen über das „Meidlinger L“

Es handelt sich bei diesen Vermutungen derzeit nur um Hypothesen, die durch entsprechende empirische Untersuchungen geprüft werden müssen. Wir stehen also in Bezug auf die Beschreibung der Entwicklungsgeschichte des „Meidlinger L“ noch relativ am Anfang.

Um eine solche Entwicklung wie die Entstehung des heute sehr salienten „Meidlinger L“ beschreiben zu können, muss man außerdem die Sprachgeschichte der beteiligten Sprachen und Dialekte, allen voran der sogenannten „Gebersprache“ (des Wienerischen) sehr gut kennen. In Bezug auf das „Meidlinger L“ bedeutet das, dass man in einem ersten Schritt gut nachvollziehen können muss, wie genau die verschiedenen „L“-Varianten vor 100 oder 150 Jahren gebildet wurden.

Die uneinheitlichen und zum Teil sehr fantasievollen Bezeichnungen (Kranzmayer 1956 etwa bezeichnet das retroflexe [ɭ] als „ü-haltig“) aus der Literatur dieser Zeit führen immer wieder zu Ungereimtheiten, sodass oft schwer einzuschätzen ist, ob konträre Aussagen einer unzureichenden modernen Interpretation, den eingeschränkten technischen Möglichkeiten der frühen Phonetik oder schlichten Irrtümern der damaligen Forscher geschuldet sind. So ist kaum nachvollziehbar, warum Karl Luick eine retroflexe Aussprache mit dem Tschechischen assoziiert, wo sie nicht vorkommt: Hat er sich hier geirrt, Retroflexion und Velarisierung in einen Topf geworfen oder war er mit einer Datenlage konfrontiert, die wir heute nicht mehr so vorfinden?

Die Analyse historischer Aufnahmen könnte hier neue Zugänge schaffen, wenn sie auch leider nicht besonders zahlreich sind und die Qualität entsprechend der damaligen Möglichkeiten gelinde als eingeschränkt bezeichnet werden muss. Glücklicherweise können wir heutzutage nicht nur viel einfacher viel bessere Tonaufnahmen herstellen, wir können diese auch noch z. B. mit Ultraschallbildern des Mundraums während des Sprechens ergänzen, um ein sehr genaues Bild der Artikulation zeichnen zu können. Wenn alle Stricke reißen, kann man noch versuchen, in historischen Texten sogenannte „Reflexe“ einer bestimmten Aussprache zu finden, also Schreibungen, die auf sie hindeuten. Schließlich müssen unbedingt auch Spracheinstellungen miteinbezogen werden, um herauszuarbeiten, wann und wie sich dieses „Meidlinger L“ zum stereotypen Wiener Laut entwickelt hat.

Erst wenn anhand der genauen Analyse der sprachlichen Situation des Deutschen in Ostösterreich keine stringente Erklärung für die Entwicklung des „Meidlinger L“ gefunden wird, ist es aus kontaktlinguistischer Sicht zulässig, Sprachkontakt als Grund dafür anzunehmen. Sollte das der Fall sein, müsste man all diese Arbeitsschritte auch für die (zentralmährischen) Dialekte des Tschechischen und anderer Kontaktsprachen durchlaufen.

Die Vorstellung, dass das „Meidlinger L“ eine direkte, einfache Übernahme aus dem Tschechischen sei, können wir jedoch mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zurückweisen – und gleichzeitig zeigen, dass die sprachliche Wirklichkeit oft weit komplexer ist als auf den ersten Blick angenommen!

Literatur

Kranzmayer, Eberhard (1956): Historische Lautgeographie des gesamtbairischen Dialektraumes. Wien: Hermann Böhlaus Nachf.

Luick, Karl (1904): Deutsche Lautlehre. Mit besonderer Berücksichtigung der Sprechweise Wiens und der österreichischen Alpenländer. Leipzig / Wien: Deuticke.

Pohl, Heinz Dieter (1997): Österreich – Austria – Autriche. In: Hans Goebl (Hg.): Kontaktlinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Teilband 2, 1797–1812.

Recasens, Daniel (2012): A cross-language acoustic study of initial and final allophones of /l. In: Speech Communication 54 (3), 368–383.

Wiesinger, Peter (2003): Die Stadt in der neueren deutschen Sprachgeschichte. V: Wien. In: Werner Besch u.a. (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. vollständig neubearb. und erweit. Aufl., Teilband 3. Berlin / New York 2003, 2354–2377.

Zu den Autorinnen und dem Autor

Agnes Kim ist im Rahmen von Teilprojekt 06 des SFB „Deutsch in Österreich“ am Institut für Slawistik der Universität Wien als Prae-doc-Assistentin angestellt. Sie arbeitet schwerpunktmäßig zu Aspekten des (historischen) Sprachkontakts zwischen dem Deutschen und Tschechischen.

Carolin Schmid ist Doktorandin am Institut für Schallforschung und beschäftigt sich im Rahmen ihrer Dissertation mit den phonetischen Aspekten von Sprachkontakt bei späten bilingualen Sprecher*innen, insbesondere mit der Aussprache der Laterale. Außerdem arbeitet sie im Rahmen der „Sprechstunde für mehrsprachige Kinder mit Verdacht auf Sprachentwicklungsstörungen“ am AKH an einem Projekt zum Phonologieerwerb bei bilingualen Kindern mit Sprachentwicklungsstörung.

Jan Luttenberger hat Angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Wien studiert und arbeitet am Institut für Schallforschung in der Forschungsgruppe Akustische Phonetik. Für das Teilprojekt 02 des SFB „Deutsch in Österreich“ hat er in Niederösterreich, Oberösterreich, der Steiermark und dem Burgenland Feldaufnahmen zu den örtlichen Basisdialekten durchgeführt. Momentan ist er mit der phonetischen Auswertung dieser Aufnahmen beschäftigt und untersucht unter anderem Phänomene wie die „Wiener Monophtongierung“ und den velarisierten Lateral in den ostösterreichischen Basisdialekten.


Zitation
Kim, Agnes; Schmid, Carolin; Luttenberger, Jan (2021): Das „Meidlinger L“ – Einem Sprachmythos auf der Spur. Teil 2: Kontaktlinguistische Perspektiven.
In: DiÖ-Online.
URL: https://www.dioe.at/artikel/2792
[Zugriff: 21.12.2024]